Samuel Wiedmann blickt lächelnd in die Kamera und hält das Buch, das er geschrieben hat, hoch: "Ole und die Werkstatt für zu kurze Beine"

"Der größte Schritt passiert im Kopf, nicht mit den Füßen." Orthopädietechniker Samuel Wiedmann im Gespräch

Samuel Wiedmann ist Orthopädietechniker in Heidelberg. Die Kinder, die er betreut, begleitet er oft von klein auf bis ins Erwachsenenalter. Außerdem hat der vierfache Vater kürzlich ein Buch geschrieben. Im Interview mit Wombly erklärt Samuel, warum sein Beruf der schönste der Welt ist.
Der Weg der Wombly-Kleidung: Von der Idee zum fertigen Produkt Du liest "Der größte Schritt passiert im Kopf, nicht mit den Füßen." Orthopädietechniker Samuel Wiedmann im Gespräch 13 Minuten

Samuel Wiedmann ist Orthopädietechniker in Heidelberg. Die Kinder, die er betreut, begleitet er oft von klein auf bis ins Erwachsenenalter. Außerdem hat der vierfache Vater kürzlich ein Buch geschrieben. Im Interview mit Wombly adaptive kidswear erklärt Samuel, warum sein Beruf der schönste der Welt ist.

WOMBLY: Samuel, Du bist Meister der Orthopädietechnik. Kannst Du uns erklären, was Du da genau machst?

Samuel: Wir Orthopädietechniker stellen Hilfsmittel unterschiedlichster Art her. Bei der Firma Pohlig liegt der Schwerpunkt auf individuell hergestellten Hilfsmitteln, mit Fokus auf Kinderversorgung. In der Heidelberger Niederlassung liegen unsere Schwerpunkte hauptsächlich in der Orthetik und Prothetik. Darüber sind wir auch auf Wombly aufmerksam geworden. Für Orthesen-Patient*innen ist das Thema adaptive Kleidung spannend, weil das An- und Ausziehen der Hilfsmittel oft Thema ist, und da ist es natürlich wichtig, dass man gut rankommt.

WOMBLY: Werden die Orthesen und Prothesen richtig in Handarbeit gemacht?

Samuel: Unser Beruf ist ein richtiger – und sehr abwechslungsreicher – Handwerksberuf. Jedes Hilfsmittel wird bei uns für jedes Kind individuell hergestellt und im Wachstum entsprechend angepasst. Wo Adapterteile verbaut sind, kann man im Verlauf einer Versorgung auch mal einfach die Länge etwas anpassen, aber es verändert sich ja auch der Körper mit der Zeit. Unsere Hauptarbeit ist die individuelle Anpassung entsprechend den Fehlstellungen und Fehlbildungen. 

WOMBLY: Und können die Kinder sich aussuchen, wie zum Beispiel ihre Prothese aussieht? Gibt es da Designentscheidungen?

Samuel: Ja, klar. Wir arbeiten bei der Herstellung mit Laminierharz-Werkstoffen, da können wir Stoff mit einlaminieren. Wir haben eine Auswahl an Deko-Stoffen vorrätig, aus denen die Kinder wählen können. Aber es gibt auch immer wieder ganz kreative Familien, die selbst irgendwelche verrückten Stoffe besorgen, die wir dann einarbeiten. Das ist toll für die Kinder, weil sie sich dadurch viel stärker mit dem Hilfsmittel identifizieren. Es ist viel mehr „ihres“. Von Paw Patrol und Einhörnern bis Marvel ist da alles dabei.

WOMBLY: Wie kamst du auf diesen Berufswunsch?

Samuel: Ich war noch sehr jung, als ich die Ausbildung begonnen habe. Ich erinnere mich noch an meine erste Arbeitswoche – da wusste ich gar nicht so richtig, was die anderen da alle machen. Aber ich habe dann die Ausbildung abgeschlossen und mich in Richtung Bein-Prothetik spezialisiert, und jetzt, mit den Jahren, die ich das schon mache, muss ich sagen: ich wüsste keinen schöneren Beruf. Das Handwerkliche ist mir sehr wichtig – inzwischen bin ich natürlich hauptsächlich im Büro und mache Administratives. Aber das Wichtigste ist für mich, dass wir mit allen Patient*innen so unmittelbar im Kontakt sind. Man erfährt total viel, das geht natürlich weit über eine handwerkliche Tätigkeit hinaus. Man begleitet die Kinder über Jahre, letztendlich noch enger als Lehrer. Zum Beispiel bei Familien, deren Kinder angeborene Fehlbildungen haben. Ich habe da einige Fälle, die ich als kleines Kind kennengelernt habe. Irgendwann ist dann plötzlich der erste Termin, zu dem sie alleine kommen, ohne Eltern. Da sitzen sie allein im Wartezimmer und ich frage: „wo sind denn Deine Eltern?“ Dann sagen sie: „Ich bin heute alleine da, ich hab‘ jetzt den Führerschein!“ Oder sie kommen zum ersten Mal in Begleitung von Freund oder Freundin. Und dann auf einmal haben die ersten einen geänderten Nachnamen oder kommen mit Partner*in oder mit Baby. Dann erinnert man sich natürlich daran, wie sie als kleine Kinder hier waren. Jetzt sind es auf einmal Menschen, die mitten im Leben stehen. Und ich weiß: ich habe mit meiner Arbeit einen Anteil daran.

WOMBLY: Ich habe Mode studiert, da geht es ja auch viel um Handwerk. Leider ist das kaum noch Teil meines Berufs, das fehlt mir auch. Ich stelle mir diese Kombination aus Handwerk und Kontakt mit den Menschen wirklich schön vor.

Samuel: In der Gesellen- und Meisterprüfung müssen Orthopädietechniker auch heute noch Mieder nähen: Stützmieder aus Stoff, so richtig mit Schnittmuster erstellen und Maß nehmen. Meine Freundin - inzwischen meine Frau - hat damals zu meiner Prüfungszeit ein paar Mieder von mir bekommen (lacht).

WOMBLY: Wow, also ein maßgeschneidertes Mieder ist nun nicht die einfachste Nähübung. Bemerkenswert, dass das Teil der Prüfung ist - ansonsten hat euer Beruf mit Nähen eigentlich nichts zu tun, oder?

Samuel: Doch, es kommen schon immer wieder Textilien vor. In der Prothetik nicht so sehr, aber es gibt ja Bandagen und Soft-Orthesen und auch ganze Anzüge, Lycra-Kompressionsanzüge für spastisch gelähmte Kinder, die mit der Kompression eine bessere Körperspannung aufbauen können und auch koordinativ besser werden. Der Bereich Kompressionsversorgungen ist groß, der deckt Venentherapie bis Narbentherapie vieles ab.  Es gibt ein ganz spannendes Produkt aus dem Textilbereich: der Mollii Suit von Ottobock, ein Ganz-Körper-Anzug mit Elektrostimulations-Elementen, mit dem sich beispielsweise MS-Patient*innen stimulieren können. Das kann den Körpertonus bedeutend verbessern. 

WOMBLY: Diesen Sommer hast Du als Techniker das deutsche paralympische Team unterstützt.

Samuel: Das war einfach toll. Da war ich in einer interdisziplinären Werkstatt mit einem internationalen Team unterwegs, wild zusammengewürfelt mit ganz unterschiedlichen Leuten. Dort habe ich mich mit einem Kollegen aus der Entwicklungsabteilung bei Ottobock in Wien unterhalten, der ist Textilingenieur. Wir haben uns intensiv über elastische Materialien wie z.B. Meshgewebe ausgetauscht. Das ist in der Prothetik ein wichtiges Thema, weil es den Komfort enorm erhöht, elastische Bereiche in die Versorgung mit einzuarbeiten.  Ein Prothesenschaft zum Beispiel, in dem ein Stumpf ist, der muss natürlich sehr stabil sein, aus festem Material, das nicht kaputt geht. Die Verbindungen müssen stabil sein, das Prothesenkniegelenk beispielsweise. Die Patient*innen sitzen mitunter viel, und wenn sie dann eine harte Kante am Prothesenschaft haben, ist sehr unangenehm. In gewissen Bereichen „fenstern“ wir das sehr harte Carbonfaserlaminat, um gerade Sitzkanten flexibel zu gestalten.

Der fachliche Austausch war allerdings nur ein kleiner Nebeneffekt aus der Zusammenarbeit mit Kolleg*innen aus den unterschiedlichsten Bereichen der Orthopädietechnik. Otto Bock stellt ja bereits seit 1988 bei allen Paralympischen Spielen die komplette Infrastruktur inklusive dem Team für alle Reparaturen von Hilfsmitteln. Über den Zeitraum von fast 4 Wochen hat das Werkstattteam von ca 160 Mitarbeitenden Orthopädietechniker*innen und Physiotherapeut*innen ca.3000 Reparaturen an den unterschiedlichsten Hilfsmitteln durchgeführt. Teil dieses Teams aus 41 Nationalitäten und 32 verschiedenen Sprachen zu sein, war eine sehr besondere Erfahrung. 

WOMBLY: Das Thema Werkstoffe ist sehr spannend. Es tut sich auch ziemlich viel in diesem Bereich, sicher kommen ständig neuen Materialien und neuen Möglichkeiten dazu?

Samuel: Absolut. Aktuell ist natürlich der 3D-Druck ein großes Themengebiet. Das wird riesig beworben, weil es Firmen gibt, die ein großes Interesse daran haben, möglichst viel zu drucken. Wir wägen differenziert ab, wo das wirklich sinnvoll ist. Theoretisch könnte man alles drucken, aber für eine Dauerstabilität sind dann doch die aktuell druckbaren Wandstärken zu dick oder das Gewicht zu hoch. Wir nutzen eben ziemlich hochwertige Kohlefaser-Laminate, die wir so nicht gedruckt kriegen, sondern über Laminierverfahren herstellen. Die sind im Moment den 3D-Druck-Materialien noch weit überlegen. Aber in gewissen Bereichen hat der 3D-Druck seine Daseinsberechtigung und birgt vor allem perspektivisch riesige Vorteile. Deshalb ist es uns im Unternehmen besonders wichtig, die aktuellsten Technologien zu kennen und zielgerichtet einzusetzen. In der Werkstatt im Olympischen Dorf hatten wir einen 3D-Drucker, um Ersatzteile, die nicht direkt verfügbar waren, vor Ort ausdrucken zu können.

WOMBLY: Arbeitet ihr mit Institutionen wie sozialpädiatrischen Zentren zusammen oder seid ihr ausschließlich im direkten Kontakt mit Familien?

Samuel: Es gibt ein SPZ, das wir fest betreuen und unterschiedliche SPZs und Praxen, die Patient*innen zu uns schicken. In „unserem“ SPZ sind wir einmal pro Woche vor Ort und haben dort auch einen Werkstattraum angemietet. Dort gehen wir mit in die Sprechstunden, sehen uns die Patient*innen gemeinsam mit den Ärzt*innen oder Therapeut*innen an und entscheiden zusammen, welche Art von Versorgung notwendig ist.

WOMBLY: Versorgt ihr nur Kinder und Jugendliche?

Samuel: Unser Schwerpunkt liegt auf der Versorgung von Kindern und Jugendlichen, aber natürlich bieten wir auch Erwachsenenversorgungen an. Allein schon, weil wir die Kinder ja bis ins Erwachsenenalter betreuen. Bei den Kindern mit Prothese hat natürlich der größte Teil eine angeborene Fehlbildung. In Deutschland gibt es kaum amputierte Kinder. Die entsprechenden Diagnosen sind, zum Glück, super selten. Amputationen sind zum Großteil aufgrund von Gefäßverschluss, zum Beispiel durch Diabetes, Rauchen oder eine Sepsis. Die wenigsten dieser Diagnosen werden im Kindesalter gestellt. Unser Portfolio umfasst Prothesenversorgungen aller Niveaus und für jedes Alter.

WOMBLY: Bei unseren Kund*innen gibt es manchmal Fälle, die uns sehr nahe gehen. Wie geht es dir damit bei der Arbeit?  

Samuel: Mit diesem Thema beschäftige ich mich schon länger. Ich nenne es immer „den psychologischen Aspekt von Hilfsmittelanproben“. Ich habe einige Jahre schwerpunktmäßig im Bereich Dysmelieversorgung, also angeborene Fehlbildungen, gearbeitet. Da fällt auf, dass die Akzeptanz von Hilfsmitteln und auch die Akzeptanz der Behinderung sehr hoch ist. Die Kinder nehmen sich selbst mit einer wahnsinnig großen Selbstverständlichkeit wahr. Sie sind so, wie sie sind. Sie fühlen sich normal, denn sie waren ja nie anders. Die Eltern hadern am Anfang viel mehr, was ich absolut verstehen kann. Man muss nur an diesen Spruch denken: „egal was es wird, Hauptsache es ist gesund“. Was sollen die Eltern unserer Kinder dazu sagen? Sie können gar nichts mehr sagen. Das ist Wahnsinn. Aber bei diesen Eltern nehme ich keinen Hang zur Resignation wahr. Natürlich muss irgendwann eine Akzeptanz einsetzen, dass es so ist, wie es ist, aber das kommt meist. Und die Kinder überraschen in der Regel damit, was sie dann alles können und wie toll sie sich entwickeln: sie sind wie kleine Wundertüten. Das ist wunderschön zu sehen und trifft in den meisten Fällen zu.

WOMBLY: Und gibt es andere Bedarfsbereiche, in denen das anders ist?

Samuel: Irgendwann habe ich die Leitung für den ganzen Prothesenbereich übernommen und hatte auf einmal viel mit Menschen zu tun, denen Gliedmaßen amputiert wurden. Das war eine enorme Umstellung: das waren Menschen, die es gewohnt waren, auf zwei Beinen unterwegs zu sein, und plötzlich fehlte eines. Da merken wir als Techniker dann immer wieder, dass wir mehr oder weniger dafür verantwortlich gemacht werden, dass das Leben „wieder normal“ wird. Viele sagen: „ich will ja nur wieder laufen können.“ Aber ich empfinde es oft so, dass der Subtext lautet: „ich will doch einfach nur, dass alles wieder so ist, wie es vorher war.“ Aber es wird nie mehr so werden wie vorher, und das zu akzeptieren ist der Schlüssel zu neuer Lebensqualität. Diejenigen, die das begreifen, gewinnen so viel - viel mehr als durch das Laufen an sich. Deshalb sage ich immer: der größte Schritt passiert im Kopf, nicht mit den Füßen.

WOMBLY: Manche Menschen haben es in sich, dass sie sich besonders gut auf neue Situationen einstellen können.

Samuel: Ja, das ist die Sache mit der Resilienz. Wenn man sich ansieht, wie so ein Samuel Koch durch die Welt rollt – man weiß natürlich nicht, ob’s ihm immer so geht, wie er wirkt. Aber der hätte ja sagen können, mein Leben ist vorbei, und jeder hätte ihn verstanden. Aber das hat er eben nicht gemacht.

WOMBLY: Das heißt, dass Kinder versterben ist etwas, das bei euch eigentlich nicht passiert.

Samuel: Nein, zum Glück nicht. Ganz vereinzelt kommt das bei Kindern mit Amputation nach einer Tumorerkrankung wegen Knochenkrebs vor, aber das ist sehr selten. Und ich muss zum vorherigen Thema noch sagen: wir Orthopädietechniker haben eigentlich alle ein Helfer-Syndrom, aber wir können eben auch wirklich etwas machen. Wir können mit unseren Händen etwas machen, damit es den Menschen besser geht. Das ist einfach eine Tatsache, die es für uns leichter macht. Die Menschen kommen zu uns mit ihrem Schicksal und mit ihrem Weg, der noch vor ihnen liegt, aber wir können aktiv einen Teil dazu beitragen, dass es leichter oder besser wird.

WOMBLY: Wombly adaptive kidswear entwickelt adaptive Kleidung für Kinder mit Pflegebedarf, beispielsweise für die Bedarfe der Kinder, die ihr betreut. Wie wichtig findest Du es, dass dafür spezielle Kleidung angeboten wird?

Samuel: Es ist immer Thema bei den Patient*innen, im Alltag an die Hilfsmittel ranzukommen. Viele lassen sich seitlich ein Reißverschluss in die Hose nähen, auch viele Erwachsene. Das ist wahnsinnig praktisch, weil man auch in der Öffentlichkeit schnell herankommt, wenn zum Beispiel etwas verrutscht ist. Mit einem Baby oder Kleinkind ist das noch kein so großes Problem, aber für ein größeres Kind wird das schnell unangenehm, wenn es in der Öffentlichkeit seine ganze Hose ausziehen müsste. Auch gibt es bei immer wieder Phasen mit Fixateuren, da spielt die passende Hosenweite eine Rolle. Im Bereich der Armprothetik, welche wir ebenfalls anbieten, ist es aus meiner Sicht etwas leichter zu tricksen als am Bein.

WOMBLY: Samuel, Du hast außerdem auch noch ein Buch geschrieben: ein Kinderbuch. Es heißt: „Ole und die Werkstatt für zu kurze Beine“ und ist 2022 im Stachelbart Verlag erschienen.

Samuel: Ja. Die Mama eines Patienten mit Prothese hatte mich angesprochen: ihr Sohn komme in eine neue Klasse. Ob ich von einem Kinderbuch wisse, das sie der neuen Lehrerin geben könne, um das Thema schon ein bisschen zu bearbeiten und die Klasse darauf vorzubereiten? So ein Buch gab es aber nicht und ich dachte, so schwer kann das doch nicht sein, so ein Buch zu machen. (lacht) Also es hat dann schon ein bisschen länger gedauert, als ich dachte. Ein Arzt aus Erlangen, Holm Schneider, und seine Frau, ihres Zeichens Verlegerin, haben diesen Verlag gegründet und publizieren viel zum Thema Inklusion. Es ist wirklich ein schönes Buch geworden.

WOMBLY: Das finden wir auch. Lieber Samuel, wir danken Dir für dieses Gespräch.

Das Gespräch führte Lina Phyllis Falkner.

Schreibe einen Kommentar

Alle Kommentare werden vor dem Veröffentlichen geprüft.

Diese Website ist durch hCaptcha geschützt und es gelten die allgemeinen Geschäftsbedingungen und Datenschutzbestimmungen von hCaptcha.